von Manfred Hagen
Auszug aus: Hagen, Manfred: DDR Juni '53.
Die erste Volkserhebung im Stalinismus.
Steiner Verlag Stuttgart 1992. S. 146 f.
Bild-Quelle: Ciesla, Burghard: Freiheit wollen wir.
Der 17. Juni in Brandenburg. Potsdam 2003.
Am anderen Ende der Größenskala haben wir genauere Nachrichten aus der kleinen Stadt Belzig. Ein großer Arbeitstrupp der Reichsbahn-Bauunion arbeitete auf halbem
Weg zwischen Berlin und Dessau an dem Abschnitt Nauen-Treuenbrietzen der geplanten "Städtebahn".
Durch Nachrichten von Pendlern aus Berlin und Potsdam mobilisiert, faßten die Bauleute nach Diskussionen den Beschluß zum Streik und wählten einen 26jährigen
Arbeitskollegen zum Streikführer. Auf dem Marsch zum Betriebshof wurde das Dorf Haseloff passiert, wo sich viele anschlossen. Man erreichte weiterziehend das Städtchen Niemegk, wo sich zwei
weitere Bautrupps einfügten.
Auf dem Bahnhof wurde ein umfangreiches Programm aufgestellt, das, von Sekretärinnen mit maximaler Zahl von Durchschlägen geschrieben, Forderungen nach
Absetzung der Regierung, freien Wahlen, Fall der Zonengrenze und Freilassung der politischen Gefangenen sowie - in bezeichnender Nachordnung - auch Wirtschaftsangelegenheiten
enthielt.
Auf dem Marktplatz des 5000-Einwohner-Städtchens Niemegk fand darauf eine erste Kundgebung statt, bei der Streikführer P. von einem LKW-Dach herab eine Rede
hielt und das "Programm" verlas. Man faßte den Beschluß, nach der Kreisstadt Belzig zu ziehen. Es wurde ein Bauzug zur Verfügung gestellt, und alles, was Fahrzeuge hatte, zog nach Belzig.
Dort wurden die Ankommenden am Bahnhof schon erwartet, und auf dem Marktplatz fand eine Massenversammlung statt, auf der wiederum die Forderungen verlesen und auch vervielfältigt verteilt
wurden.
Nun trafen Sowjetsoldaten ein; ihr Kommandant ordnete die Auflösung der Kundgebung an. Nach kurzer Auseinandersetzung schossen die Soldaten über die Köpfe hinweg.
P. ging daraufhin zum Rat des Kreises und forderte im Bewußtsein der Rechtmäßigkeit der Aktionen Polizei zum Schutz der Versammlung an. Natürlich führte dies zu nichts; der Wortführer verkündete,
zurückgekehrt, das Ende der Kundgebung. Sie wollten aber weiterstreiken, bis ihre Forderungen erfüllt waren.
Es ist offenbar bei diesen sehr geordnet verlaufenden Ereignissen zu keinerlei Gewalttat gekommen. Trotzdem wurde der nach acht Tagen aufgespürte und verhaftete P. zu 15 Jahren
Zuchthaus verurteilt, wobei ihm als besonders erschwerend eben jenes Ersuchen um einen Polizeischutz für die Kundgebung vorgehalten wurde.
Anmerkungen:
1. Das Urteil lautete 10 Jahre Zuchthaus.
2. Unterstreichungen wurden von uns vorgenommen.
3. Kursivschriften wurden vom Verfasser selbst eingesetzt.
Diese Webseite ist allen Opfern von Unrecht und Willkürherrschaft gewidmet.